Strukturentwicklung
Strukturentwicklung leicht erklärt: was hinter den 67 Millionen Euro für das Modellvorhaben "ÖPNV für Görlitz" steckt
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ENO Projektmanagerin Heike Schleussner arbeitet seit 14.06.2021 im Kommunalteam der Projektgruppe Strukturwandel und berät Kommunen und Gemeinden.
Sie ist eine erfahrene Verkehrsexpertin, die nach ihrem Master of Science im Fach Verkehrswirtschaft an der TU Dresden als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet hat und sich dann mit ihrer eigenen Firma selbstständig machte. Mit der Mobilitätswerk GmbH hat sie für viele Städte und Kommunen in Deutschland Mobilitätskonzepte entworfen. Also untersucht, wo man welche Verkehrsangebote schaffen muss, um den Menschen nachhaltige und umweltschonende Mobilität zu ermöglichen. Dabei waren auch der Landkreis Görlitz und die Lausitz Ihre Projektpartner. Nun erklärt sie uns, wie sich moderne Mobilität gestaltet - und räumt mit der Idee, dass Görlitz 67 Millionen Kohleausstieggeld "nur in neue Trams" investieren wird, gründlich auf.
Man mag denken: „In Görlitz fahren Straßenbahnen, im Landkreis auch Busse. Wenn man nicht minutiös planen kann, muss man manchmal lange warten, aber im Großen klappt doch Vieles.“ Ganz einfache Frage an die Fachfrau:
Wo siehst du Verbesserungsmöglichkeiten beim Verkehr im Landkreis Görlitz?
Als nun fast tägliche Bahn-Pendlerin sehe ich schon allein aus meinem Alltag heraus zahlreiche Herausforderungen, die Verbesserungspotenzial haben: das fängt bei der„letzten Meile“ zum Bahnhof und der Flexibilität der Angebote an und hört bei der Digitalisierung und der Vernetzung auf. Wieso kann ich nicht über etablierte Apps wie Googlemaps oder DB Navigator einfach meine Route durch die Lausitz planen und Tickets buchen? Erst wenn es trotz unterschiedlicher Verkehrsmittel und Zonen einfach ist, ist es wirklich für jedermann attraktiv!
Viele tolle Angebote sind durch die fehlende Vernetzung beispielsweise auch kaum bekannt. Wusstest Du, dass es in Görlitz ein flexibles eBike-Verleihangebot gibt? Die Digitalisierung und Vernetzung von Verkehrsangeboten bilden die Grundvoraussetzung, um eine Verkehrswende anzugehen.
Könntest Du das für uns Laien bitte weiter erläutern?
Das bedeutet vereinfacht gesagt auch, dass Probleme, die jeder im ländlichen Raum täglich beobachten kann, gelöst werden: ein 12 Meter langer Bus befördert außerhalb der Stoßzeiten teure Luft nach einem starren Fahrplan. Um dies aufzulösen, können bedarfsorientierte flexible Shuttles/ Kleinbusse oder Sharing-Angebote helfen. Voraussetzung für diese Flexibilität sind aber eben auch wieder die Vernetzung der Angebote, die entsprechende Infrastruktur, innovative Fahrzeugkonzepteund digitale Fahrgastinformationen.
Wie könnte denn der Verkehr zukünftig besser gemacht werden? Was bedeutet das Schlagwort der “Verkehrswende” konkret?
Verkehrswende ist eigentlich die Kombination aus Energiewende, also dem Umstieg von konventioneller zu erneuerbarer Energieerzeugung und Energieeinsparung, und der Änderung des Verkehrsverhaltens, also die Verkehrsvermeidung oder der Umstieg zu nachhaltigeren Verkehrsmitteln. Damit sind Verkehrsmittel aus dem Umweltverbund gemeint - also ÖPNV, Bahn, Sharing-Angebote, Fuß und Rad. Das geht unter anderem durch den Umstieg vom Verbrennungsmotor auf alternative Antriebe und der Nutzung des Umweltverbundes. Für eine Verkehrswende reicht ein Mehr an Angebot allein aber auch nicht aus. Zum einen müssen neue, flexible, bedarfsorientierte Angebote auch finanzierbar sein, das heißt es braucht auch neue Geschäftsmodelle, und zum anderen müssen sie ja auch genutzt werden.
Das bedeutet konkret, dass mehr Menschen, vor allem auch bei uns im ländlichen Raum dann einen attraktiveren ÖPNV stärker nutzen würden - oder sollten?
Insbesondere im ländlichen Raum spielt die Nutzung des ÖPNV aktuell kaum eine Rolle, weil er oft nicht besonders attraktiv ist. Viele kennen die Angebote gar nicht. Ich pendele mit der Bahn aus Dresden nach Görlitz und nehme Termine im ganzen Landkreis wahr, wobei ich immer versuche, meine Ziele mit Bussen und Bahnen zu erreichen. Oftmals klappt es – doch bei meinen Terminen empfangen mich die Partner auch manchmal mit den ungläubigen Worten: “Was? Sie sind mit dem ÖPNV hergekommen?!”. Die meisten nutzen den eigenen Pkw, weil sie gar nichts anderes gewohnt sind. Es ist für jeden schwer aus seiner Gewohnheit auszubrechen. Umso wichtiger ist es, dass auch durch groß aufgezogene Modellvorhaben eine Wahrnehmung erzeugt wird und damit auch ein Stück weit die Berührungsängste genommen werden. Spannend sind auch alternative Finanzierungsformen, die bspw. über eine sogenannte Nutznießerfinanzierung auch Unternehmen, touristische Einrichtungen oder Gewerbegebiete in die Planung einbeziehen. Dadurch kann nicht nur das Angebot zielgruppenspezifisch verbessert, sondern auch neue Einnahmequellen und neue KundInnen erreicht werden.
Du hast es gerade erwähnt: Modellvorhaben. Am 03. November 2021 fiel die Entscheidung für den Görlitzer ÖPNV. Die Stadt Görlitz bekommt 67,7 Millionen Euro! Davon sollen neue innovative Straßenbahnen finanziert werden, eine verbesserte Infrastruktur mit modernen Fahrgastinformationen geschaffen und auch Busse mit alternativen Antriebsarten gekauft werden. Der gesamte ÖPNV soll modernisiert und erweitert werden. Kannst Du diese Schlagworte des Modellvorhabens ein wenig konkretisieren? Wie geht man so ein Riesenprojekt als Verkehrsexperte an?
Ganz so banal wie es jetzt gern dargestellt wird, ist es nicht. Da steckt deutlich mehr drin als nur neue Trams! Zum einen ist es das einzige Modellvorhaben zusammen mit dem mitteldeutschen Revier. Das allein ist schon ein wichtiger Schritt für den dringend notwendigen Technologie- und Wissenstransfer (von anderen Lernen, statt das Rad neu zu erfinden). Zum anderen gliedert sich das Vorhaben sehr gut in die bestehenden Forschungsvorhaben am Siemens Innovationscampuszu den Themen Wasserstoffmobilität und automatisiertes Fahren ein. Außerdem steht der Region durch das Vorhaben der GVB ein echt starker Partner, die Leipziger Verkehrsbetriebe, an der Seite. Sie sind unter anderem mit ihren Testfeldern zum automatisierten Fahren ABSOLUT und flexiblen On-Demand Angebot Flexa im Randgebiet einer der Vorreiter in Deutschland. Damit haben die Stadt Görlitz, GVB und der Landkreis Görlitz einen wichtigen Grundstein gelegt, um nach den Zielen der Kohlekommission auch ein Lausitz Cluster Mobilität (LCM) anzustoßen und damit viele weitere Zukunftsprojekte zu starten und ein Alleinstellungsmerkmal zu schaffen.
Das hört sich ja wirklich nach viel mehr als “nur neue Trams” an...
Ja, für die Umsetzung innovativer Verkehrskonzepte benötigt es neben dem Automatisierungssystem, der Kommunikationsinfrastruktur eben auch geeignete Fahrzeuge als Basis. Das eine ergibt also ohne das andere keinen Sinn – die Einzelinvestition wäre quasi wie ein dreibeiniger Stuhl. Vernetzungsfähige Fahrzeuge sind unter anderem auch die Grundlage für den Einsatz von alternativen Antriebstechnologien, denn nur wenn die Leitstelle Einblick hat, wie der Akkuladezustand ist oder wann die nächste Wasserstoffbetankung nötig ist, kann ein reibungsloser Ablauf gewährleistet werden.
Hier in Görlitz und Umgebung wurde begonnen, das Verkehrssystem ganzheitlich zu betrachten: von hochautomatisierten, bedarfsorientierten Quartiersshuttlen (Bezirks-Rufbusse) als Zubringer bis hin zum Verkehrsleitsystem. Dieses soll in Kombination mit P&R-Plätzen das Verkehrsaufkommen in der Stadt entzerren und Parksuchverkehr reduzieren. Spannend ist in diesem Sinne nicht nur der geplante Einsatz alternativer Antriebstechnologien und damit auch wieder die Verbindung zu den Forschungseinrichtungen, sondern auch die Digitalisierung der Leitzentrale und des Betriebshofmanagements. Denn nur so kann auch ein effizienter Fahrzeugeinsatz für ein attraktives und zuverlässiges Verkehrsangebot erreicht werden.
Master of Science im Fach Verkehrswirtschaft an der TU Dresden, jetzt Projektmanagerin bei der ENO: Heike Schleussner
Noch zum Schluss: Du hast doch bestimmt schon eine Vision für den Verkehr 2038 – bitte erzähle sie uns!
Vielleicht meine persönliche Traumvision für das Jahr 2038: Es gibt zentrale Hauptrouten, die regelmäßig mit dem Zug befahren werden. Umsteigen ist durch den „Deutschlandtakt“ oder die PlusBus-Systeme und der Vernetzung der Angebote überhaupt kein Problem mehr. Über eine multimodale (mehrere Verkehrsangebote verbindende) Mobilitätsapp kann ich mir mit geringem Vorlauf einen Shuttlebus zu der Haupt-Bahnroute buchen, der je nach Streckenanforderung autonom oder mit einem Fahrer fährt. Ist kein Bus verfügbar, kann ich entweder ganz entspannt über einen Ridepooling-Dienst (Sammelfahrten) mit anderen Fahrgästen zu meinem Zielort fahren oder nutze den kleinen Elektroflitzer, den mein lokaler Carsharing-Verein bereitstellt. All diese Varianten bietet mir eine einfach zu bedienende App inkl. Fahrzeit und Kosten direkt an. So ist es zukünftig vielleicht auch möglich, morgens um 9 Uhr einen Termin in Weißwasser wahrzunehmen, wenn man mit dem ÖPNV in Dresden starten will. Aber auch kleinere Gemeinden können über Bedarfsverkehre regelmäßig, d.h. mindestens stündlich, erreicht werden. Die Pkw-Besitzquote ist auf 0,20 gesunken, weil es einfach nicht mehr nötig ist, ein eignes Auto zu besitzen. Alle Mittel- und Oberzentren sind mit breiten und vorrangig beschilderten Radwegenausgestattet und sehr bequem mit dem Fahrrad erreichbar.
Vielen Dank, liebe Heike - und viele Grüße!
Eure
Jasna
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