Vom Rhein an die Neiße

Vom Rhein an die Neiße

Vom Rhein an die Neiße

Ein Erfahrungsbericht von Sven Erik Backhausen

„Das Blatt Papier, welches gefüllt werden möchte“ - ich könnte meine Zeit in der ENO nicht besser beschreiben. Was es damit aber genau auf sich hat, erfährst Du sofort. 

Alles hat mit einem Umzug im Oktober vergangenen Jahres von Köln nach Görlitz angefangen. „Görlitz? Jung, wo is dat denn?“ – Ja, das musste ich mich häufig fragen lassen. Vor einigen musste ich mich fast rechtfertigen, dass es eine gewollte Entscheidung von mir ist und ich mich darauf freue, in diese Region zu ziehen. Und das nicht nur vor den Menschen zu Hause – selbst in Görlitz schienen viele fast fassungslos über meinen Umzug. „Was wollen Sie denn hier? Hier passiert doch nüscht!“, fragte mich eine Maklerin bei einer Wohnungsbesichtigung nahezu empört. Nein, da habe ich damals schon nicht zugestimmt und ich tue es heute auch nicht. Hier passiert so einiges, auch wenn viele das auf den ersten Blick nicht sehen mögen. Und ja, die Wohnung habe ich trotzdem bekommen... Die Reaktionen sind für mich das Beispiel par excellence, dass die Mauern in unseren Köpfen noch zu hoch sind, dass wir uns noch nicht nahe genug sind und uns einfach noch nicht richtig sehen. Da trete ich doch nur zu gerne als Vermittler auf! Natürlich, hier wird eine andere Mentalität gelebt und bis man zum „Du“ kommt, scheint es einfach etwas länger zu dauern. Eine wunderbare Dozentin sagte mir mit einem großen Augenzwinkern: „Ab jetzt gibt es erst einmal nur noch Lausitzer Granitschädel!“ Den habe ich zwar noch nicht gesehen, aber falls es ihn gibt, freue ich mich auch auf sie bzw. ihn! Die andere Seite der Medaille sieht so aus, dass ich hier erleben durfte, was Begegnung und Wahrnehmen auf Augenhöhe im universitären und beruflichen Kontext bedeuten können. Hier muss ich mich nicht erst mal beweisen. Wenn ich mich einbringen möchte und Ideen habe, bin ich willkommen. Das kannte ich in dieser Form noch nicht. Und so beeindruckt mich das immer noch sehr. Aber nun zur eigentlichen Geschichte:

„Management sozialen Wandels“ – so heißt der Grund, warum ich hier bin. Was das genau bedeutet, ist prinzipiell Auslegungssache. Unsere Gesellschaft befindet sich immer im Wandel und wirklich gestalten lässt sich dieser ehrlich gesagt nur bedingt. Aber hier in der Lausitz nimmt dieser Begriff eine andere Form an. Hier stellt sich eine Region einem fundamentalen Wandel, der „live“ erlebt wird und greifbar ist. Eine Region, die an vielen Stellen enkeltauglich werden will und für eine zukunftsfähige Gesellschaft bereit ist. Auf der anderen Seite aber auch eine Region, die sich durch ein zwanghaftes Festhalten an ihrer Vergangenheit und durch die Vorstellung, dass die Lösungen für morgen im Gestern liegen, selbst im Wege steht. Viele wichtige Stimmen werden nicht ernst genommen. Unsere Gesellschaft und unsere Art zu handeln, müssen sich verändern. Das ist unabdingbar. Aber wie gestalten wir eine tragfähige Zukunft? Eben das versuchen wir in diesem Masterstudiengang an der HSZG in Görlitz zu lernen. Und damit wir auch schnell Praxisluft schnuppern (und auch etwas Zeit überbrücken) können, werden wir Studierenden sofort ins kalte Wasser geworfen. Bei einem Praktikum sollten wir den Wandel in der Region miterleben können. Für mich war sofort klar, dass ich diesen Strukturwandel in der Lausitz, von dem alle sprechen, erleben und wirklich begreifen möchte. Wie organisiert sich eine Region, die vor gewaltigen gesellschaftspolitischen Umstrukturierungen steht? Welche neuen Formen von Gesellschaft entstehen hier? Kann eine Region bereits jetzt zu einer „europäischen Modellregion“ erklärt werden, obwohl sich viele Menschen vor Ort nicht als eine solche begreifen?! Die Fragen, Antworten und Herausforderungen scheinen endlos. Sich genau diesen Fragen zu nähern, darum ging es in meiner Zeit in der ENO. Nach einem inspirierenden und wertschätzenden Gespräch mit Herrn Mimus wurde mir eine andere Art Dringlichkeit und Offenheit deutlich. Nämlich, dass hier neue Ideen und Denkweisen benötigt werden und dass es Mut braucht, diese Ideen anzugehen und alte Mauern einzureißen. Einige Zweifel bleiben trotzdem: Darf ich denn überhaupt als Außenstehender meine Ideen hier einbringen, obwohl ich doch eigentlich gar nicht „dazugehöre“? Ab wann gehört man denn irgendwo dazu und woher soll ich es denn besser wissen als die Menschen hier? Eins steht fest: Die Region ist für mich definitiv kein leeres Blatt Papier, aber einige Zeilen zum Ausfüllen sind auf diesem Papier noch frei. Und dass ich Teile davon füllen darf, empfinde ich als Geschenk! Danke, Görlitz!

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